Wir schreiben den 23. Dezember 2021. Ich befinde mich in meinem Arbeitszimmer in Hamburg. Ich blicke hinaus. Dicke Schneeflocken fallen auf die schon leicht gezuckerten Hecken und den Rasen. Wie sich die ganze Welt zu beruhigen scheint, wenn das Weiß alles zudeckt und die Stille mit sich bringt. Und wie schön das immer wieder aussieht! Als Hamburgerin hat man das nicht so häufig. Jedenfalls nicht vor der eigenen Haustür. Um so mehr freue ich mich. Und nehme das als Fingerzeig des Universums, dass eben doch nicht alles schlecht ist und das Schöne – wie immer – in der Welt verblieben ist.
Von der allgegenwärtigen Erschöpfung und der Notwendigkeit schöner Anblicke
Schöne An- und Ausblicke sind so nötig. Ich kenne niemanden persönlich, der sie nicht ersehnt. Ich kenne niemanden, der nicht von fast zwei Jahren Pandemie erschöpft ist. Gleichgültig, welchen Beruf meine Freund:innen ausüben:
Zwei Jahre Pandemie, zwei Jahre in einer ständigen „Obacht!“-Haltung aufgrund ständiger latenter Bedrohungssituation, seit zwei Jahren in einem permanenten Ausnahmezustand, der erfordert dieses oder jenes auch noch auszugleichen (sei es die fehlenden Kolleg:innen, die fehlende Kita oder beides oder etwas ganz anderes), hinterlässt Spuren. Dazu seit 1,5 Jahren eine Politik, die verzweifeln lässt. Stets reaktiv, nie auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnis agierend, immer so spät, dass es zu spät ist. Wieder sitzen wir in einer grauenvollen Welle. Schlimmer als jemals. Und das obwohl wir Impfstoffe gegen dieses Virus haben. Obwohl uns seit dem Sommer bekannt war, was im Herbst kommen würde. Wir hätten die Pandemie wegimpfen können. Jedenfalls hätten wir mit klaren Regelungen seit eben diesem Sommer, dass nur Geimpfte Zutritt zu den Vergnügungen des Lebens (Restaurants, Theater, Kino, Sport usw. usf.) haben und dass jeder zur Arbeit einen aktuellen Testnachweis oder ein Impfzertifikat vorweisen muss, schon lange viel mehr Menschen zu einer Impfung bewegen und diese Welle mindestens in Schach halten können. Hätten… Haben wir aber nicht. Und so kündigen auch die letzten Pflegkräfte und Ärztinnen, weil sie einfach nicht mehr können und sich seit zwei (okay, seit zwanzig) Jahren niemand für sie zuständig fühlt. So sehen wir die Inzidenzen und die Krankenhauseinweisungen bei Kindern und Jugendlichen steigen und steigen, weil das Narrativ der sicheren Schulen und der Kinder, für die Corona nur ein Schnupfen sei, unbedingt – gleich wieviele wissenschaftliche Untersuchungen das Gegenteil zeigten – beibehalten werden musste. Ich bin mir sicher dieses Gefühl des „Zurückgelassenwerdens“ , das durch zu spätes Handeln, unlogische Entscheidungen (am Platz muss keine Maske getragen werden, die Aerosole fallen auf wundersame Weise nach 1,5m zu Boden) und mangelhafte Kommunikation immer wieder hervorgerufen wird und das medizinisches Personal sowie Eltern ganz immens, aber auch sicher alle anderen in der Pandemie trifft, ist der entscheidende Faktor dafür, dass die Erschöpfung so hoch ist.
Ein weiterer Faktor, der jedenfalls bei mir für unendliche Erschöpfung sorgt, ist die Art und Weise, auf welchen Grundlagen wir in Deutschland seit 1,5 Jahren über die richtigen Maßnahmen diskutieren. Jede Maßnahme muss aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet und abgewogen werden, es muss darum gestritten und gerungen werden. Es braucht den politischen, juristischen, medizinischen und ethischen Diskurs. Immer. Und vor allem in einer freiheitlich demokratischen Grundordnung. Aber dieser Diskurs kann doch nur auf Basis von Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen (die sich durchaus ändern können!) erfolgen. Wenn Kultusminister*innen auch 2021 noch negieren, dass Covid eine durch Aerosole übertragene Krankheit ist und das gemeinsame Singen ohne Maske mit Abständen von 2m für unbedenklich erklären oder die Maskenpflicht gleich ganz abschaffen, dann kann man das machen… aber dann hat das nichts mit einem auf Basis von Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen geführten Entscheidungsprozess zu tun. Mich macht dieser ganz erheblich durchschlagende Dunning-Kruger-Effekt in politischen Entscheidungen während der Pandemie wahnsinnig. (Zum Dunning-Kruger-Effekt in Politik und Gesellschaft zu Pandemiezeiten lest Fromme Weihnachtswünsche: Mehr Respekt und weniger Dummheit)
Kurz, ich kann mich den Worten des von mir sehr geschätzten Mathias Richel nur anschließen:
Ich bin so erschöpft, dass ich denke: Gut, dann bekommen wir eben alle Omikron. Bin ja geboostert. Und dann 2, 3x damit anstecken & regelmäßig jedes Jahr impfen. Corona ist dann wie Grippe. Dazu noch funktionierende Medikation. Mutation als Hoffnung, ja so erschöpft bin ich.
Von den schönen Dingen
Trotz aller Erschöpfung* und einer Weltenlage, die einen nur schreiend weglaufen lassen bzw. unter die Bettdecke kriechen lassen will, ist natürlich auch dieses Jahr viel schönes passiert. Unter anderem dies:
*Erschöpfung, die so hoch ist, dass ich übrigens gerade überlege, diesen Artikel nicht fertigzuschreiben und nicht zu versenden, weil… ja, weil es der 23. Dezember und schon 16:11 Uhr ist und ich eigentlich nur noch mit Tee und Keksen auf die Couch möchte. Auf der anderen Seite schreibe ich jetzt seit Jahren diese Weihnachtsgeschichte. Das gehört einfach dazu. Das geht nicht ohne. Und wenn jetzt nicht die Zeit für schöne Wort und warmen Dank ist, wann dann?
Es ist relativ bekannt, dass Twitter die Plattform meiner Wahl für politische und gesellschaftliche Kommunikation ist. Das war nun recht vornehm ausgedrückt. Zuweilen beschreibe ich mich ja selbst als die keifende alte Frau am Fensterbrett, die zetert und schreit. Ich nenne es auch meine Dekompensationsstrategie in allem Irrsinn. Was viele jedoch nicht wissen: Twitter ist nicht nur Twitter. Es ist nicht nur die Plattform, in der Filterblasen aneinander vorbei schrei(b)en und aus der Journalisten versuchen, die neuesten Stimmungen zu erkennen. Twitter ist soviel mehr. Das war es schon immer. Aber in den letzten 1,5 Jahren hat sich ein Netzwerk hinter dem sichtbaren Twitter gebildet, das sich der Pandemie in den Weg stellt. Immer wieder. Darunter sind Ärzt*innen, Virolog*innen, Modellier*innen, aber auch Berufe, die zunächst einmal überhaupt nichts mit „Pandemie“ am Hut haben – außer, dass es sie betrifft. In diesem Netzwerk werden neueste Erkenntnisse laiengerecht aufbereitet. Und es werden und wurden über dieses Netzwerk Menschen geschützt, die von der Politik verlassen wurden: Kinder. Kinder mit vorerkrankten Eltern, Kinder mit eigenen Vorerkrankungen. Es wurden Ärzt*innen, die den offlabel-use und die individuelle Risikoabwägung nicht scheuten und Kindern, die der Impfung dringend bedurften, zusammengebracht. Und als die Impfstoffe zahlreicher und die Situation für die Kinder an den Schulen und Kitas immer gefährlicher wurde, wurde dieses Engagement ausgeweitet – soweit wie es allen Beteiligten möglich war. Mein Engagement bezog sich an dieser Stelle vor allem darauf, Ärzt*innen die Rechtslage im Hinblick auf den Offlabel-Use zu erläutern und mit Haftungsausschlüssen unter die Arme zu greifen. Der Zusammenhalt unter den Beteiligten, der war und ist toll. Ich hab großartige Menschen kennengelernt. Menschen, nahezu unmenschliches leisten. Danke dafür. Das alles ist auch deswegen so schön, weil es immer wieder zeigte, es ist nicht alles schlecht. Vor allem zeigte es, es gibt noch so viele andere Menschen, denen nicht alles und alle anderen egal sind. Noch großartiger ist, dass inzwischen die Impfung ab 5 Jahren offiziell von der EMA zugelassen ist und dass nach der neuen Corona-ImpfVO auch klar die Drittimpfung von Kindern von der Haftung nach § 60 InfSchG gedeckt ist. (Nach der Auffassung einiger Kollegen und mir, ist vom Wortlauf auch die offlabel-Impfung von unter 5jährigen gedeckt, aber das ist hier und heute nicht das Thema 😉 ). Unsere Arbeit wird in naher Zukunft hoffentlich vollkommen überflüssig. Das wäre eine wirklich cooler Move von 2022. 😉
Meine zweite Dekompensationsstrategie ist der Sport. Genauer gesagt das Turnen. Welch unglaubliche Freude, dass im Sommer endlich wieder die Hallen aufmachten! Und wie schön, dass in meiner Seniorengruppe (ja, im Turnen ist man ab 30 Senior. ;-)) alle so schnell als möglich geimpft und auch drittgeimpft waren. So findet sich hier ein kleiner Safespace für mich persönlich. ich weiß natürlich, dass man sich auch unter Geimpften anstecken kann. Aber das Risiko ist gering und noch viel geringer das Risiko eines schweren Verlaufs. Stelle ich dem gegenüber wie gut es mir tut, drei Mal die Woche für zwei Stunden in der Halle zu stehen und alles, aber wirklich alles vergessen zu können, dann ist meine Risikoabwägung an dieser Stelle vollkommen klar: Zu Gunsten meiner Gesundheit risikiere ich meine Gesundheit. An dieser Stelle deswegen: Danke an J., J., S., S., S., L., A., C., K., F. für die Zeit in der Halle mit Euch. Ein ganz besonders dickes Danke an J.K. Du weißt, warum. :-*. Ein noch viel größerer Dank geht an meinen Mann, der mich immer wieder in die Halle ziehen lässt, obwohl sie soviel Zeit klaut und er das Ganze darüber hinaus noch für das gefährlichste Hobby der Welt hält. :-* :-*
Keine Dekompensationsstrategie, sondern mein Beruf ist das Dasein als Anwältin. Und das ist dieses Jahr wirklich einfach eine rundum schöne Sache gewesen. Zum einen war dieses Jahr das erfolgreichste Geschäftsjahr, dass ich jemals verbuchen durfte. Hier danke ich also wieder einmal aus ganzem Herzen und mit aller Demut meinen, unseren, Mandanten, die die Arbeit immer wieder vertrauensvoll in unsere Hände legen. Zum anderen zeigte dieses Jahr noch einmal ganz eindeutig, dass ich mit der Entscheidung, wieder in die eigene Kanzlei zurückzugehen, die richtige getroffen habe. Ich freue mich jeden Tag auf das Büro und vor allem die zwei Menschen, die da noch mit mir gemeinsam arbeiten. Wir sind einfach ein verdammt gutes Team. Beruflich wie menschlich. Und das ist ein großes Glück. Möge es noch lange andauern.
Von der Zeit die Welt zu vergessen
Und nun, nun wird es an der Zeit, einmal die Welt nicht nur für ein paar Stunden, sondern soweit als möglich, ein paar Tage, zu vergessen. Ich denke, das war selten so notwendig, wie heute. Dazu passt ganz unbedingt die zweite Strophe von „Leise rieselt der Schnee“:
In den Herzen ist’s warm,
still schweigt Kummer und Harm,
Sorge des Lebens verhallt:
Freue dich, Christkind kommt bald!
An das Christkind glaube ich nicht. Wohl aber an das, wofür das Christkind hier steht: Glaube an das Gute, Liebe und Hoffnung.
In diesem Sinne,
Ihnen eine schöne Weihnachtszeit.
PS: Ich bin mir bewusst, dass sich nicht alle zurückziehen können. Denjenigen, die beruflich nicht für einige Zeit die Tür hinter sich zuziehen können, denen wünsche ich, dass sie zwischendurch immer wieder schöne Stunden mit Freunden oder der Familie verbringen und Lichterglanz und Freude auch dort die Herzen füllen und die Akkus wieder aufladen möge.
Liebe Nina, danke für die sinnreichen Zeilen zur Weihnacht, die wieder mal so verdammt nah an der Realität sind, dass es schon anfängt weh zu tun. Und ja, es ist heute schon der 5.1. an dem ich Deine Zeilen konsumiert und die wenigen Worte Dir schreibe – ich war schon am 18. so platt von dem Irrsinn in 2021, dass ich erst zu Heilig Abend wieder atmen konnte und bis zum 3.1. die Türe hinter mir konsequent zugeschlossen hatte. Aber es geht weiter … der ganz normale Wahnsinn wird uns auch in 2022 unerschöpflich erquicken – es ist doch herrlich, dass man (und Frau) sich auf nix wirklich neues einstellen müssen 🙂 In diesem Sinne: Ein gutes, gesundes und spannungsgeladenes neues Jahr … und nimm den Balken nur zum Turnen … auch wenn man(n) oder Frau gerne mal mit dem 4-Kt-Holzstück dreinschlagen möchte 😉 Herzliche Grüße aus dem Black Forest