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Das Urteil des EuGH C-55/18 zur Arbeitszeiterfassung – Breathe!

Am 14. Mai erging das EuGH Urteil C-55/18 zur #Arbeitszeiterfassung, #Arbeitszeit, #Arbeitsrecht (so die Hashtags auf Twitter). Wilde Aufregung macht sich breit. Aus, Aus, Auuuus! für die Vertrauensarbeitszeit, Stechuhren regieren das Land, ein neues Bürokratiemonster rennt durch die EU. So jedenfalls der Eindruck, wenn man den vorgenannten Hashtags folgt und den „Analysen“ Glauben schenkte, die zuweilen gefühlte drei Sekunden nach der Pressemitteilung (sic!) des EuGH unter den vorgenannten Hashtags zu finden und zu lesen waren.

Nach dem ich mein Unbehagen (latent genervt) über die Untergangspropheten kundtat (btw, seit wann ist diese Empörungskultur eigentlich in die iwS juristische Blase gedrungen?!), wurde ich immer wieder gefragt, was denn aber  dann in dem Urteil stünde bzw. dran sei.

Uff, eigentlich hab ich gerade gar nicht die Zeit. Aber hier in aller Kürze. (Rechtschreibfehler können Sie deswegen gerne behalten.)

tl,dr: Nicht viel.

Doch der Reihe nach.

Worum ging es?

Die Vorlagefrage an den EuGH stammt aus Spanien. Die Arbeitnehmervertreter waren der Auffassung, dass die Deutsche Bank SAE Art. 35 des Arbeitnehmerstatuts (Estatuto de los Trabajadores), in welchem es heißt:

  1.   Arbeitsstunden, die über die im Einklang mit dem vorstehenden Artikel festgelegte Höchstdauer der Regelarbeitszeit hinaus geleistet werden, stellen Überstunden dar. […]
  2. Die Zahl der Überstunden darf 80 Stunden jährlich nicht überschreiten. […]
  3. […]
  4. Die Leistung von Überstunden ist freiwillig, soweit sie nicht in einem Tarifvertrag oder in einem Individualarbeitsvertrag innerhalb der Grenzen von Abs. 2 festgelegt ist.
  5. Für die Berechnung der Überstunden wird die Arbeitszeit jedes Arbeitnehmers täglich aufgezeichnet und zum für die Zahlung der Vergütung festgelegten Zeitpunkt zusammengezählt, wobei dem Arbeitnehmer eine Kopie der Aufstellung im Beleg zur entsprechenden Zahlung übermittelt wird.

vor dem Hintergrund der dritten Zusatzbestimmung „Zuständigkeiten der Arbeitnehmervertreter im Bereich der Arbeitszeit“ ( Real Decreto 1561/1995, sobre jornadas especiales de trabajo)

„Unbeschadet der den Arbeitnehmervertretern im Bereich der Arbeitszeit im Arbeitnehmerstatut und im vorliegenden Real Decreto zuerkannten Befugnisse haben diese Vertreter das Recht:

[…]

b)      jeden Monat vom Arbeitgeber über die von den Arbeitnehmern geleisteten Überstunden unterrichtet zu werden, unabhängig von der gewählten Form des Ausgleichs; sie erhalten zu diesem Zweck eine Kopie der Aufstellung nach Art. 35 Abs. 5 des Arbeitnehmerstatuts.“

nicht hinreichend nachkomme und begehrte die Feststellung

dass die Deutsche Bank nach Art. 35 Abs. 5 des Arbeitnehmerstatuts und der dritten Zusatzbestimmung des Königlichen Gesetzesdekrets 1561/1995 verpflichtet sei, ein System zur Erfassung der von ihren Mitarbeitern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzurichten, mit dem die Einhaltung zum einen der vorgesehenen Arbeitszeit und zum anderen der Verpflichtung, die Gewerkschaftsvertreter über die monatlich geleisteten Überstunden zu unterrichten, überprüft werden könne.

Im Verfahrensgang hatte zunächst das Oberste Gericht (Tribunal Supremo) geurteilt, dass

dass Art. 35 Abs. 5 des Arbeitnehmerstatuts – vorbehaltlich einer anderslautenden Vereinbarung – nur die Führung einer Aufstellung der von den Arbeitnehmern geleisteten Überstunden sowie die Übermittlung der Zahl dieser Überstunden am jeweiligen Monatsende an die Arbeitnehmer und ihre Vertreter auferlege.

Das dann damit befasste und nun vorlegende Gericht, der Nationale Gerichtshof  (Audiencia Nacional), war sich eben da nicht so sicher. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass in Spanien 57,4% der geleisteten Überstunden eben gar nicht erfasst werden (sind ja auch „freiwillig“, ha, ha) und dass es zur Ermittlung von Überstunden schon irgendwie erforderlich sei, die an sich geleistete Arbeitszeit zu kennen.

Das klingt vor dem Hintergrund,

dass die Deutsche Bank trotz zahlreicher Regeln über die Arbeitszeit, […], kein betriebsinternes System zur Erfassung der von ihren Mitarbeitern geleisteten Arbeitszeit eingerichtet habe, mit dem die Einhaltung der vereinbarten Arbeitszeiten überprüft und die möglicherweise geleisteten Überstunden berechnet werden könnten.

erst Mal recht logisch.

Und so wollte der Nationale Gerichtshof wissen, ob denn das spanische Arbeitschutzgesetz mit der EU Richtlinie 2003/88 vereinbar sei. Insbesondere, ob die Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die nach ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte die Arbeitgeber nicht verpflichtet, ein System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.

Das Urteil des EuGH

Sehr vereinfacht sagt der EuGH dazu

„Jo, wenn es an einem System der Erfassung der eigentlichen Arbeitszeit mangelt, dann kann man nun mal nicht feststellen, wann eigentlich die Überstunden beginnen. Das stellt den Arbeitnehmer, der oft in einem asymmetrischen Machtverhältnis zum Arbeitgeber steht, schlecht. Er kann kaum nachweisen, dass er tatsächlich schon Überstunden geleistet hat.“

Ausführlich und im entsprechenden juristischen Stil findet sich das Ganze in den Randnummern 46 – 58 des Urteils.

Konsequent urteilt der EuGH weiter :

Insoweit ergibt sich [die Verpflichtung zur] Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann. (Rn. 62).

Was bedeutet das?!

Zunächst einmal bedeutet das eine Stärkung der Arbeitnehmer.

Ja, wenn man vertrauensvoll mit dem Chef zusammenarbeitet und diejenigen Überstunden, die über etwaige nach dem Arbeitsvertrag bereits mit dem Gehalt abgegoltene Überstundenregelungen hinausgehen, auch im Rahmen von Gleit- oder Vertrauensarbeitszeit tatsächlich ausgezahlt oder ausgeglichen bekommt, ist das nicht notwendig. Keine Frage. ABER: Jetzt sind wir mal ganz ehrlich. In unseren hübschen Filterblasen mag das (sehr oft) der Fall sein. In sehr, sehr vielen Fällen, angefangen von nach Gutherrenart geführten klassischen Unternehmen/Abteilungen, über die ach so coole Startup-Kultur bis hin zu den Ärzten und Pflegenden im Krankenhaus (#twankenhaus), sieht das mal gar nicht so gut aus.

So, ich höre die Gedanken schon über dem Kopf des einen oder anderen Lesers:

  1. Aber dann müssen jetzt ja doch überall Stechuhren hin!
  2. Das führt doch nur dazu, dass irgendwelche Scheinaktivitäten irgendwo eingetragen werden.

Also doch überall Stechuhren! (Spoiler: Nein.)

Nein. Denn der EuGH hat noch mehr gesagt, was in der allgemeinen Berichterstattung aber kaum Widerhall findet. (Ist ja auch nicht so polarisierend…*seufz). In Ziffer 63 heißt es nämlich:

 Doch obliegt es […] den Mitgliedstaaten, im Rahmen des ihnen insoweit eröffneten Spielraums, die konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Systems, insbesondere dessen Form, festzulegen, und zwar gegebenenfalls unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs, sogar der Eigenheiten bestimmter Unternehmen, namentlich ihrer Größe;

Weiter gilt daneben nach dem EuGH ausdrücklich weiter Art. 17 Abs. 1 der EU-Richtlinie 2003/88, nachdem

die Mitgliedstaaten […] Ausnahmen […] vornehmen dürfen, wenn die Dauer der Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht bemessen und/oder vorherbestimmt ist oder von den Arbeitnehmern selbst bestimmt werden kann.

Uuuups. Einmal die vorstehenden Sätze mit modernen Arbeitsformen im Gehirn durchgeschüttelt und siehe da: Von einer allgemeinen Stechuhren-Notwendigkeit und damit auch Panik sind wir mit dieser Entscheidung des EuGH meilenweit entfernt.

Richtig ist zwar, dass es nun als Arbeitgeber nicht mehr ausreicht § 16 Abs. 2 ArbZG, wonach der Arbeitgeber „nur“ verpflichtet ist, die über die werktägliche Arbeitszeit […] hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen, zu genügen.

Aber zum einen bedeutet das, dass das der nationale Gesetzgeber hier endlich mal ran an den Speck muss. Und damit, dass dieser endlich, endlich (so hoffen wir doch alle!) tatsächlich dieses anachronistische Arbeitszeitgesetz umfänglich modernisiert, so dass mobiles Arbeiten etc. pp. nicht immer nach der russischen Methode (dengel, dengel, passt!) darunter gebracht werden muss.

Zum anderen bedeutet das vor dem Hintergrund der EuGH Rechtsprechung und Ziffer 63 sowie Art. 17 Abs. 1 EU-Richtlinie 2003/08 eben nicht, dass nun in jedem Arbeitsverhältnis willenlos alles aufgezeichnet werden muss. 

Vertrausensarbeitszeit sowie der Vertrauensarbeitsort sind und bleiben möglich. Diejenigen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die eigenverantwortlichen Arbeiten fördern und fordern (und wie in den oben genannten Beispielen gut zusammenarbeiten!), die können sowohl auf die Eigenart des Unternehmens als auch auf die besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit wie auch der Selbstbestimmung der Mitarbeiter im Sinne von Art. 17 rekurrieren und damit einer für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber überbordenden Dokumentationspflicht im Einzelnen entgegentreten. (Hint: Ein gut gestalteter Arbeitsvertrag ist hier viel wert…).

Für andere Arbeitnehmer sorgt das Urteil im Zweifel nur dafür, dass Überstunden weniger als selbstverständlich genommen werden (müssen) und das ist keine schlechte Nachricht. (Übrigens, selbst wenn die Arbeitszeit aufgezeichnet werden muss: Im Handwerksbetrieb, in dem mein Schwager angestellt ist funktioniert das per App -> Klick, wenn sie losfahren. Klick, Pause. Klick Pause Ende. Klick, wenn sie wieder zu Hause sind. Wenn das da geht… dann sollte das wohl auch sonst nicht sooo schwierig sein. (Jetzt kommt mir nicht an dieser Stelle mit der DSGVO. Andere Baustelle, die „sowieso“ einzuhalten ist.))

Aber was heißt nun „objektives System“?!

Ganz ehrlich, das weiß noch kein Mensch. Denn natürlich hat der EuGH dazu keine Vorgaben gemacht.

Die KollegInnen sind sich jedoch relativ einig (siehe bspw. hier), dass die Delegation der Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung weiterhin an den Arbeitnehmer delegiert werden kann. Anders ist es in vielen Berufsgruppen (etwa dem Vertrieb) ohnehin gar nicht möglich und es widerspricht auch nicht dem Zweck des Gesetzes, dass schließlich nur den Arbeitnehmer vor ausbeuterischer Arbeit schützen soll.

Und ein objektives System kann dabei durchaus auch die gute, alte Excel-Tabelle sein, die monatlich abgegeben wird. Objektiv kann sie schon dadurch werden, dass sie per Schreibschutz vom AN gesperrt wird.

Aber die Scheinaktivitäten!

Der immanente Vorwurf, das Urteil und die darin enthaltenen Verpflichtungen seien alle unsinnig, da dann sowieso nur Scheinaktivitäten eingetragen würden, sind… Scheinargumente. Egal, welches System der Arbeitszeiterfassung: Schindluder ist immer möglich. Und zwar in alle Richtungen. Oder kennen Sie nicht die Geschichten von betriebsratsvertretenen Arbeitnehmern, die sich sich abends ausstempeln, um nicht „zuviel“ auf der Uhr zu haben, um dann trotzdem weiterzumachen? Oder die Chefs, die Ihren MA eiskalt sagen, sie dürften nur acht Stunden statt der tatsächlichen zehn eintragen, da sie sonst den Job los seien? Eben. Alles nicht zulässig. Wird trotzdem gemacht. Im letzten Fall könnte es aber mal sehr ungünstig für den Chef enden. So ein Verhalten ist nämlich strafrechtlich relevant…

Fazit

Die meisten derjenigen, die im Rahmen der Erregungsblase geschrien haben, was das für ein entsetzliches Urteil sei, das ihren freien Arbeitsstil vernichten werde, werden von den Auswirkungen des Urteils im Ergebnis gar nicht betroffen sein.

Manch andere werden profitieren. (Und hey, das ist gut so!)

Und an all die Arbeitgeber, die jetzt horrende Kosten für die Einsetzung solcher Systeme anprangern: Well, dazu konnten oder wollte die Deutsche Bank SAE nichts vortragen (Rn. 67 des Urteils). Scheint wohl nicht so schlimm zu sein. Und mir fiele jetzt wirklich nicht ein, was die Anschaffung eines „Systems“, ähem, wir erinnern an Excel, nun so unglaublich teuer und aufwendig machte. Mir dünkt, hier wird eher gefürchtet, dass Arbeitgeber nun ihre Mitarbeiter tatsächlich für geleistete Arbeit bezahlen sollen… (Sollte jemand auf den Vorwurf kommen „Ja, Sie als Rechtsanwältin können das ja sagen!“, just FYI, ich bin auch Arbeitgeberin).

In diesem Sinne,

keep on going, relax and breathe.

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Nina Diercks (M.Litt, University of Aberdeen) arbeitet seit 2010 als Rechtsanwältin. Sie führt die Anwaltskanzlei Diercks in Hamburg. Die Anwältin berät und vertritt Unternehmen bundesweit, ist jedoch ausschließlich im IT-| Medien-| Datenschutz und Arbeitsrecht tätig. Daneben steht die Nina Diercks gern und oft als Referentin auf der Bühne sowie als Interviewpartnerin und Gastautorin zur Verfügung. Dazu hat sie im Jahr 2010 diesen Blog (früher: Social Media Recht Blog) ins Leben gerufen. Mehr

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